Der
superlative Anspruch ist die Bürde, die den Besucher fast
erdrückt auf seinem Weg in die Neue Bühne: Zehn Stunden
Theater, darin mindestens drei gewichtige und zwei weitere Inszenierungen,
viel Inspirierendes und auch Ablenkendes dazwischen - werde ich
das als Zuschauer schaffen? Eigentlich nicht. Deshalb ist es wünschenswert,
dass diese Marathon-Projekte mit Nummer zehn aufhören. Sie
überfordern, sie verramschen Geniales und sie sind sowieso
nicht mehr zu übertreffen nach diesem letzten Latschinian-Festival.
Der sprühende Theatermann inszeniert selbst vier der Stücke,
tritt zudem als Flugkapitän des SenftenBERg-Airports in Erscheinung
und ist irgendwie allgegenwärtig, vielleicht gar geklont;
wer weiß das schon in einem solchen tollen Haus ganz großer
Illusionen. Es ist, als treibe ihn die Angst einer letzten Stunde,
in der ihm kein noch so kleines Detail entgehen darf. Dabei hat
er noch Raum bis zum Spielzeitende. Erst dann verlässt Sewan
Latschinian Senftenberg Richtung Rostock. Nach zehn unvergesslich
großen Jahren für diese Bühne.
Das 10. GlückAufFest mit vier Uraufführungen und einer
Lesung hatte letzten Freitag Premiere. Wirklichkeit
heißt das übergreifende Thema. Autor Ingo Schulze,
der den Stoff zum allzusehr comedyhaft inszenierten ersten Stück
lieferte, merkt mit feinem Sprachgefühl an: Das Deutsche
hat mit Wirklichkeit und Realität zwei nahezu sinngleiche
Worte - aber eben nur nahezu. In diesem ABER scheint der
Kern des Konzepts zu stecken. Senftenbergs Wirklichkeitssuche
hebt sich weit über Realität, lotet Träume, Irrtümer,
Wünsche, Verwirrungen, Rückschläge, Resignationen,
Euphorien aus; die alle sind wirklich und hier mit viel Intelligenz
und Spielwitz abgehandelt.
Wir sahen uns nur zwei Stücke an und waren hinreichend beladen.
Bei Ingo Schulzes Unsere schönen neuen Kleider
handelt es sich um eine dramatisierte Rede. Viele Wortspiele und
manche Politikfloskel vergrübelt Alleindarsteller Bernd Färber,
immer einhaltend, suchend und gestikulierend, zwischen Spiegel
und Kleiderschrank. Den Wandel vom nackten Märchenkaiser
zur lispelnden Mutter Merkel zelebriert er in herrlicher Harmlosigkeit.
Trotzdem bleibt das Comedy, wenn auch bester Art.
Mit der Bühnenfassung von Kathi Liers zu Christoph Heins
Roman Weiskerns Nachlass nimmt uns Vollblut-Komödientheater
gefangen. Das ganze Haus macht Ausstatter Tobias Wartenberg mit
einfachen Mitteln zum Flugzeuginneren. Alle Zuschauer sind Passagiere.
Aus den vorderen Fliegersitzen ruft der Schauspieler-Chor die
fatale Grenzsituation. Stolzenberg (Alexander Wulke) glaubt (träumt),
diese Maschine stürze gleich ab. In ebenso knappen wie genauen
Sequenzen rollt eine Bildfolge kritischer Lebenssituationen dieses
nicht unzufriedenen Durchschnitts-Wissenschaftlers ab. Schneller,
fast filmischer Bildwechsel meidet jede Übertreibung und
vermag wieder und wieder zu überraschen (etwa beim Überfall
der Mädchengang oder im produktiven Stilbruch zum Singspiel).
Die Ensembleleistung sagt alles über die Wirklichkeit dieser
Neuen Bühne 2013: Großartig. Sehr zu empfehlen! - Noch
zehn Vorstellungen folgen, u.a. heute, am kommenden Sonnabend,
am 3. und am 5. Oktober.
J. Heinrich
|
Die Senftenberger GlückAufFeste werden von Theaterfreunden
von Berlin bis Dresden und auch von wichtigen Entscheidern nicht
nur pflichtgemäß wahrgenommen. Während einer Zwischenlandung
auf dem SenftenBERg-Airport traf Intendant Sewan Latschinian (Mitte)
unter den Premierengästen Brandenburgs Wissenschafts- und
Kulturministerin Prof. Sabine Kunst und den OSL-Landrat Siegurd
Heinze
Autor Christoph Hein hat sich in die Inszenierung seines Weiskern-Romans
nicht eingemischt: Ich kenne Sewan Latschinian schon lange
sehr gut und vertraue ihm.
Beim Schlussapplaus sahen sich der Intendant/Regisseur Sewan Latschinian
und Autor Christoph Hein (beide in der Mitte) in die Augen. Gut
gemacht, schien darin zu stehen. Beiderseits Fotos:
J. Hnr.
|