Cottbus.
Peter-Michael Diestel war, ist und bleibt ein Aufschneider.
Einer von der unterhaltsamen und recht kreativen Art. Er kommt
zum Brandenburgischen Seniorenverband (BSV), Durchschnittsalter
um 75, in den Brandenburger Hof und hat alle Sympathien
schon vorm Eintreffen. Er tritt (gewiss inszeniert) zu spät
auf, lässt sich telefonisch-operativ nochmals ankündigen,
erscheint dann konzentriert und mit sichtlichem Lampenfieber angesichts
des rappelvollen Saales. Dann erzählt er von sich, dem Vize-Kanzler,
der er natürlich nie war. Das Auditorium, das sich später
als wissend und mehrheitlich früher zur Polizei oder zur
NVA gehörig entpuppt, überhört die kleine Lautverschiebung
und protestiert auch nicht, als er sie wiederholt.
Vize-Kanzler also. Richtig erinnern sich die meisten im Brandenburger
Hof: Der Sportsmann wirkte immer wie der Bodygard vom bratschenden
Ministerpräsident de Maiziere, war sein Stellvertreter und
Innenminister. 174 Tage lang genau. Spannende fünf Monate.
Der Gast, jetzt 59 und jünger wirkend (sagt er
von sich) plaudert munter drauflos, wie er da hineingeriet und
wie er wieder raus kam. Was er tat in der Zeit? Lesen Sie
mein Buch, ich habe fiskalisch keinen Anteil daran, der Verlag
wird aber reich davon. Der schöne selbstironische Titel
DIESTEL Aus dem Leben eines Taugenichts? (soll von
Stefan Heym, Freund Diestels, stammen) trug dazu bei, das Werk
zum meistverkauften des letzten Jahres in Ostdeutschland zu machen.
Ein selbstloser Autor also, der seine Inszenierung mit einem Handy-Ruf
fortsetzt. Kein Klingeln. Es ist mehr: Mein Klingeln ist
die DDR-Nationalhymne. Damit ich mich immer erinnere, aus welchem
Loch ich gekrochen kam. Erste Stirnen werden runzlig. Loch!?
- Die Wirtin drängelt sich mit Getränken nach vorn,
und mit Käsekuchen...
Das Mikro funktioniert jetzt besser, Diestel nimmt Fahrt auf:
Ich schreibe keine staatstragende Scheiße, sondern
was ich erleben musste. Auch das kommt nicht so gut an.
Der Redner zupft am modischen Schal und rudert zurück. Er
habe einen richtigen Doktor der Rechtswissenschaften, vorher
KJS, das kennen Sie ja noch, da bin ich nicht politisch,
sondern disziplinarisch gefeuert worden. 13 Jahre bis zum
Beruf mit Abi, Sie wissen ja, so war das, dann wurde
er deutscher Meister als Melker, im Sport blieb
ich immer nur Vizemeister. Vizemeister und Vizekanzler.
Aber eben auch sportlich nicht deutscher. Das hieß
damals noch DDR-Meister und eben Ministerpräsident.
Immerhin hat Diestel jetzt die Herrschaften, die er später
immer mit meine verehrte Dame und mein Herr
anreden wird, bei sich. Zum sozialistischen Bodenrecht wollte
er sich habilitieren, aber dafür habe sich 1989 schon keiner
mehr richtig interessiert. Gut verdient habe er als Jurist und
Mitglied mehrerer LPG. Glauben Sie mir, ich hatte 200 Mark
mehr, als später dann als Vizekanzler der DDR.
Kohl muss ihm den Trick mit der schwarzen Tasche abgeschaut haben.
Strauß war unser Idol, Geld hatten wir nicht, bekamen
etwas in Bayern und ich kannte hier einige Fleischer, die hatten
bergeweise Ostgeld unterm Bett. Ich habe 1:10 oder 1:11 getauscht,
für Wahlplakate und Saalmieten...
Man könnte stundenlang zuhören. Und dazu diese sensationelle
Quarktorte! Was besseres gibts nicht in Cottbus. Diestel
bemerkt das nicht, der isst kernig. Ausgeglichenes Vermögen
und kerngesund stellt er sich vor. Und ein klares Geschichtsbild:
Die DDR war tragisch und komisch, meine Damen und Herren,
nicht blutrünstig oder grausam. Das ist stark verkürzt.
Aber immerhin. Diestel, der sich einen gläubigen Christ (ohne
Nachteile in der DDR, aber auch keine Vorteile) nennt, hat
fast eine Million Menschen kommandiert, die überwiegend
anderer Weltanschauung als ich waren. Wir haben ihnen
dankend die Waffen abgenommen. Wahrhaftig, eine historische
Leistung, die mit dieser Taugenichts?-Biographie verknüpft
bleibt. Er, Diestel, wirkt aber unzufrieden: Die friedliche Wende,
sagt er, wäre nicht möglich geworden, wenn sie nicht
auch von Armee, Polizei und hauptamtlicher Staatssicherheit gewollt
worden wäre. Diese Leute haben das für sich mit Anstand
und ohne den Skrupel des Verrats hinbekommen müssen, erklärt
Diestel nun nachdenklich. Sie seien gestraft mit schlechter Rente.
Ja, er bleibt unterwegs, Opfer vom Verruf zu entlasten. Es
gibt nicht DIE Stasi-Akten, es gibt nur einen Teil.
Die von wichtigen Leuten sind vernichtet oder befreundeten Geheimdiensten
zugeschoben worden. Die unbedeutenden vom schwulen Bäcker
und vom Pastor, der alkoholisiert Auto fuhr, sind geblieben. Zusammengeschwindeltes
Material ohne jeglichen juristischen Wert. Die Gauck-Birthler-Behörde?
Abschaffen, sagt Diestel. Aber der ist nun nicht mehr
Vizekanzler.
Immerhin hat er sich mit diesem Buch zu 16,95 Euro in die Galerie
der ostdeutsch-preußischen Ahnen geschrieben. Das Titelbild
zeigt ihn als Aufschneider in Öl. J.Hnr.
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Peter-Michael
Diestel, letzter DDR-Innenminister, diese Woche unterwegs zum
Brandenburger Hof Fotos:
J. Heinrich
Senioren-Donnerstag:
lange Schlange am Autogrammtisch
Peter-Michael
Diestel signiert so, wie es jeder wünscht und freut sich
sehr, dass sein Buch zu Diskussionen mit den Kindern und Enkeln
anregt. Vom 18. März bis 3. Oktober 1990 war er DDR-Innenminister.
Seine Erkenntnis auch aus jeder Zeit: Der Liebe Gott hat
die Strolche ganz gleichmäßig verteilt. Auch
davon lebt er heute als Anwalt
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