Alfredo Maragoni und Orlando Junior sind seit Montag in Deutschland
und sammeln bei ihren Besuchen Sympathien ein - nicht nur für
ihre lebhafte brasilianische Art - auch für die Idee des Beteiligungs-Haushalts.
Sie tun es, obwohl auch in Brasilien noch viel Arbeit am Konzept
nötig ist. Die größte Schwierigkeit besteht darin,
die ärmste Bevölkerungsschicht an neuen Demokratieformen
zu beteiligen. Ihre Heimatstadt Rio de Janeiro kämpft gegen
Unterernährung, Analphabetentum und politischen Terror. Rund
ein Drittel der Menschen sind aus sozialen Gründen vom demokratischen
Prozeß ausgenommen, erzählt Alfredo.
Vergleichen lassen sich diese Verhältnisse wohl nur bedingt,
auch wenn sich in Cottbus rund 55 Prozent aus Politikverdrossenheit
und Desinteresse vom demokratischen Prozeß ausnehmen. Ein
Fazit, das dennoch für beide Länder gilt: Beide Demokratien
leiden unter großem Vertrauensverlust.
In ihrer Heimatregion wird diesem Defizit inzwischen mit einer zweiten
demokratischen Ebene zuleibe gerückt - die aus allen sozialen
Schichten zusammengestzten Gemeinderäte bestimmen die Investitionsverteilung
und kontrollieren sie. Es muß Ihnen in Deutschland gelingen,
die ganz konkreten Probleme der Leute mit diesem Beteiligungsmodell
aufzugreifen - das Schlagloch vor der Haustür, weiß
Orlando Junior aus 14 Jahren Arbeit mit neuen Demokratieformen.
Und er verrät noch eine wichtige Nuance solcher Prozesse: Die
Bürger erreicht man nur, wenn an die Mitsprache auch Macht
gekoppelt ist - Erfolge müssen spürbar sein! Ein
transparenter verständlicher Haushalt kann deshalb nur ein
erster Schritt sein, weitere müssen folgen - rät Orlando,
der sich mit seiner Nichtregierungsorganisation in Brasilien um
die Ausbildung der Teilnehmer an diesem Prozeß kümmert.
Regulär gewählte Stadträte haben in Brasilien gelernt,
mit dieser neuen Parallelmacht zu leben, teilen die Verantwortung,
denn gegen den geballten Volkswillen können auch sie nur votieren,
wenn sie es gut begründen.
Auch wenn sich die beiden temperamentvollen Landsmänner gern
mal gegenseitig korrigieren: Keinen Zweifel gibt es für sie
daran, daß der Bürgerhaushalt mehr leistet, als nur die
Verteilung knapper Mittel auf breite Schultern zu bringen. Vielmehr
handle es sich um einen erzieherischen Prozeß - die gesellschaftlichen
Strukturen werden enger gestrickt, Verantwortung und Weitsicht geschult
- kurz der Spaß und der Glaube an Politik gestärkt.
Alfredo wünscht sich, daß das erfolgreiche Modell Porto
Alegre sich auch in Deutschland durchsetzt. Unterstützend wirken
hier die parteinahen Stiftungen, allen voran die PDS-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Nodrhein-Westfalen hat bereits interessante Modelle, in Berlin
wird es bald in einigen Stadtteilen solche Beteiligungsdemokratien
geben, weiß Dr. Andreas Trunschke aus seiner Beschäftigung
mit dem Thema.
Orlando und Alfredo reisen weiter nach Halle und Berlin, um hier
die Anfänge solcher Projekte zu unterstützen.
Hintergrund:
Porto Alegre wird weltweit die Hauptstadt der Demokratie genannt.
Die Stadt arbeitet seit 13 Jahren mit dem Bürgerhaushalt. Jährlich
im März beginnen die Anhörungen der Bevölkerung und
Beiräte zu aktuellen Problemen in den Bereichen Soziales, Bildung,
Stadterneuerung und Gesundheit. Die Themen bestimmen dann die Schwerpunkte
des Haushaltspapiers, das die konservativ gewählten Kommunalvertreter
erarbeiten. Dann wird diskutiert, bis ein beschlußfähiger
Entwurf entsteht. 200 Städte Brasiliens haben das in gleicher
oder ähnlicher Form übernommen.
Kritisiert wird mittlerweile die lange Zeitdauer solcher Haushaltsdebatten.
Diskutiert wird auch die Aushöhlung herkömmlicher demokratischer
Legitimationen, die Teile ihrer Macht an die Räte abgeben müssen.
Eine Verankerung in der Verfassung ist deshalb auch in Brasilien
noch nicht erfolgt. Die wachsende Popularität des Bürgerhaushalts
sichert zur Zeit seine Zukunft.
Prominenteste Beispiele für die Nachahmung partizipativer Demokratie
sind Sao Paolo, Montevideo, Caracas, Stadtteile von Paris, Barcelona
und Toronto. In Brandenburg gelten die ZIS-Programme
(Zukunft im Stadtteil) als Pilotprojekte. |
Große
Runde, großes Thema: Über neue Formen der Demokratie
diskutierte Landtagsabgeordneter Dr. Andreas Trunschke (PDS) mit
Alfredo Maragoni (Brasilien), Sina Fischer (Dolmetscherin), Orlando
Junior (Brasilien) und Gabi Grube (von li.) am Donnerstag auf
dem PolitPiano-Podium
Sprach-Expertin Sina Fischer transportierte hochschwierige Themen
ins Publikum
|