Cottbus.
Theaterspiel kann nicht nur den Zuschauer fesseln,
sondern, in einfangendem Sinne, mitunter auch den Schauspieler.
Es bindet ihn fest in den Willen von Autor, Regisseur, Ausstatter
und Beleuchter, diszipliniert ihn, zügelt seine wilde Lust
auf Galopp. Zumindest in den großen Dramen. Irgendwann aber
muss der Kessel komödiantischer Emotionen überschäumen
dürfen, will der Schauspieler, die Schauspielerin die Spielwut
so richtig herauslassen. Spielwut heißt daher
eine Stücke-Reihe in der Kammerbühne, die das erlaubt,
ja, geradezu fordert. Zwei vergnügliche Premieren gabs
letztes Wochenende.
Dreimal Cechov
Von spielwütigen Süchten hatte auch der Arzt Anton
Cechov (1860-1904) eine Ahnung; neben berühmten Dramen wie
Die Möwe oder Drei Schwestern schuf
er auch räudige kleine Vaudevilles (Possenspiele).
Seinen Heiratsantrag nannte er läppisch
und langweilig, aber für die Provinz geeignet. Er hat
die Provinzen der ganzen Welt erobert, nun auch Cottbus. Amadeus
Gollner quält sich als Ivan zwischen verhaltener Lüsternheit
und bäuerlichem Verschlagensein. Die linkische Natalja (Kathrin
Victoria Panzer) würde zu seinen Ochsenwiesen passen. Doch
die zeigt Krallen, was den Besitz betrifft, bald aber rollt sie,
weil sich da auch ein Mannsbild räkelt. Thomas Harms als
Gutsbesitzer-Vater schürt den Streit und glättet alsbald.
Heftig geht es her auf dem Bauernsofa, das ein bisschen wie ein
wendisches wirkt.
Eben noch war Thomas Harms wort- und gestenreicher Referent. Über
die Schädlichkeit des Tabaks (so der Stücktitel)
sagt er gar nichts, umso mehr, falls er nicht gerade im Notenständer
verheddert ist, über seine abwesende Frau und deren Musikschule
nebst Mädchenpensionat. Herrlich, wie ihm ereilte Gedanken
die Augen weit aufreißen, wie er das Banalste bedeutsam
referiert. Ein Festival mimischer Großaufnahmen. Eben ein
echter Harms.
Augenrollen kann auch Michael Krieg-Helbig, der bedauernswerte
fleißige, kränkelnde Bank-Buchhalter in Das Jubiläum.
Leidender als er ist kein Mensch, nur die Bank, die Jubiläum
hat, obgleich sie eigentlich tot ist. Amadeus Gollners Großspurigkeit
als Pleitier ist geradezu aus dem Lausitzer Leben gegriffen. Sigrun
Fischer als nervig-resolute Präsidentengattin und diese unausstehlich
dreiste alte Frau des Roland Schroll verstricken ihn letztlich
in sein eigenes Schicksal. Welch akrobatische Turbulenzen das
Absurde dabei ausmalen, ist nicht anders zu fassen als in dem
Begriff: Spielwut.
Anniki Nugis hat Regie geführt, die Bühne möblierte
Hans-Holger Schmidt, russische Klamotten beschaffte Nicole Lorenz.
Am Ende passte alles.
Fräulein Julie
Abgründe - gesellschaftliche, moralische, seelische - tun
sich auf in diesem Stück von August Strindberg (1844-1912),
das Mario Holetzeck (Regie) ganz in die kranke Gegenwart holt.
Das Seichte bunter Blätter halten Kristin (Susann Thiede)
und Jean (Oliver Seidel) für Wirklichkeit, bauen sich Träume
daraus. Doch die roten Nasen zeigen: Auch sie sind nur Clowns
in einer clownesken Wohlstandswelt, in die Jean gerät, um
vollends zerstört zu werden. Beim Akt mit dem Cello wird
er der entglittenen Würde nicht gewahr; er lässt sich
in Abgründe (als Bühnenklappen installiert, Ausstattung
Hans-Holger Schmidt) ziehen und bekommt am Ende, trotz krampfigen
Ringens keinen Fuß auf den Boden, auf dem ihm die Frauen
enteilen. Susann Thiede lässt Kristin leiden, aber nicht
untergehen. Die verzogene Julie hingegen bricht aus aus ihrem
Goldenen Käfig. Johanna Emil Fülle führt sie anfangs
wie fremdgesteuert vor. Ihr Aufbegehren gegen väterliche
Hut führt durch Niederungen in Hoffnung. Es sind genau gezeichnete
Charaktere, die sich in diesem kleinen Stück verändern,
die uns ähnlich sind. Kommen wir nicht gar vor im Stück?
Irrlichternde Camcorder-Bilder vermischen Spiel und Realität.
Nachdenklichkeit bleibt. Und es gibt viel Beifall.
Spielwut in der Kammerbühne ist sehr nahes Theater.
Sehr sehenswertes. Nächste Termine: Cechov: 15.10., 30.10.,
8.11., 29.11., 25.12., 31.12.; Strindberg: 10.10., 18.10., 21.11.,
18.12., 16.1.10, 30.1.10 J.H.
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Der
Heiratsantrag mit Kathrin Panzer und Amadeus Gollner, hinten
Thomas Harms
Tabak-Referent
Th. Harms
Das
Jubiläum mit Michael Krieg-Helbig, Amadeus Gollner
und Sigrun Fischer
Fräulein
Julie mit Johanna Emil Fülle, Oliver Seidel und Susann
Thiede (v.l.), hinten Live-Bilder vom ständig anwesenden
Camcorder Fotos: Marlies Kross
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